Newcomer trifft Branchenführer: Gegensätze ziehen sich an
Start-ups und die großen Namen der Branche: So unterschiedlich die Kulturen in den Unternehmen, so fruchtbar kann die Zusammenarbeit gerade auch in der Automobilbranche sein – wenn beide sich aufeinander einlassen. Was und vor allem wie Newcomer und Branchenführer voneinander lernen können, ist Thema im IAA MOBILITY Visionary Club.
Die einen sind agil, die anderen prozessgetrieben. Die einen gehen auf volles Risiko, die anderen sind vorsichtiger. Die einen agieren schnell, die anderen bedacht: Die kulturellen Unterschiede zwischen Start-ups und etablierten Unternehmen sind offensichtlich – aber doch scheint in diesem Fall immer häufiger zu gelten: Gegensätze ziehen sich an. Kooperationsprogramme zwischen jungen und etablierten Unternehmen gewinnen etwa im DACH-Raum an Beliebtheit, wie das Beratungsunternehmen mm1 in seinem „Start-up- und Innovationsmonitor 2022“ feststellt. Demnach steche gerade die Zahl der unternehmensübergreifenden Kooperationsprogramme hervor. Sie sei im Vergleich zum Vorjahr allein bei den untersuchten Unternehmen um 14 auf nun 57 gestiegen.
Auch in der Automobilindustrie ist zu beobachten, wie sich Newcomer und Platzhirsche weiter aneinander annähern. Für Dr. Michael Schlotter, Director of Applied Research – Innovation Networks bei Schaeffler, ist das kein Wunder. Schließlich seien diese Partnerschaften oft sehr fruchtbar. Die Magie liege dabei gerade auch in der unterschiedlichen Haltung zu Fehlern und Risiken. „Fail often, fail fast“ – von diesem gerne zitierten Start-up-Motto könnten große Unternehmen profitieren. „Start-ups können verrückte Ideen angehen und Fehler machen – das ist für große Unternehmen in ihren Strukturen so unmöglich.“ Hier angstfreie Start-ups, dort Risiken meidende Konzerne – „diese beiden Haltungen müssen zusammengebracht werden, um bahnbrechende Innovationen zu ermöglichen.“
Mehr Vertrauen für größeres Innovationspotenzial
Nur: Wie gelingt das? Zuerst einmal mit der richtigen Haltung, sagt Schlotter „In Forschung und Entwicklung wird oft internen Lösungen mehr getraut als externen. Das muss sich ändern. Wir müssen Start-up-Technologien mehr vertrauen, denn sie bieten großartiges Innovationspotenzial.“ Start-ups hingegen bräuchten einen klaren Plan – und eine realistische Erwartungshaltung, sagt Dr. Nicolas March, CEO von Vathos. Das Start-up ist spezialisiert auf Software für Industrieroboter, und March weiß: „Man sollte sich im Klaren sein, wie man gemeinsam mit einem großen Unternehmen eine spezifische Aufgabenstellung angehen will – und nicht erwarten, dass das Unternehmen einem hier alles abnimmt“. Im Idealfall arbeite man „gemeinsam in einem Team und an einem realen Problem statt an einer akademischen Fingerübung – an einem Problem, mit dessen Lösung man Geld verdienen und die man skalieren kann“, so March.
Einstiegshürde fürs Investment
Ohne Lohn keine Mühen, und entsprechend verlangt eine erfolgreiche Zusammenarbeit beiden Seiten viel ab – den etablierten Unternehmen etwa mehr Tempo. Start-ups müssten sich schnell voran bewegen, und entsprechend wäre es wichtig, dass die großen Partner schnell Entscheidungen treffen und ihre Prozesse beschleunigen, so March. In Sachen Entscheidungsfreude – etwa über ein mögliches Investment in eine vielversprechende Neugründung – hinke Deutschland den USA noch hinterher. Das Klima für Start-ups habe sich hierzulande zwar verbessert, aber Geld fließe hier nicht schon für eine gute Idee, so March. „Hier müssen sich eine Technologie und ein Geschäftsmodell erst bewiesen haben.“ Gerade für Deeptech-Innovationen, die sich an große technologische Herausforderungen wagen, sei das oft ein Problem, denn eine Idee reif für den „Proof of Concept“ zu machen, brauche Zeit – und Geld.
Vorteil der etwas zurückhaltenderen Investitionskultur: Es wird genau geprüft, die Spreu vom Weizen getrennt und dadurch meist effektiver investiert, so Schlotter. Habe man als Start-up erst einmal das Siegel des „Proof of concept“ von einem großen Unternehmen, verleihe das erst recht Glaubwürdigkeit. Für Schaeffler sei dieser Schritt bei der Arbeit mit Start-ups grundlegend: Am Anfang müsse die grundsätzliche Durchführbarkeit belegt werden, und erst dann entscheide man je nach Fall, wie es weitergehe – in einer Kunde-Zulieferer-Beziehung, mit einer Entwicklungspartnerschaft oder einem Investment.
Die Weichen richtig stellen
Auch Start-ups könnten schon an einigen Schrauben drehen, um sich gut für die Zusammenarbeit mit einem großen Namen aus der Branche aufzustellen. Ein klarer Plan, eine klare Strategie, klare Kommunikation, empfiehlt etwa March – und den Zugang über einen Accelerator oder Innovation Hub, denn diese kennen die Bedarfe der Industrie und verfügen über Kontakte. Ebenfalls wichtig: Erfahrung in der Arbeit mit großen Unternehmen. Das helfe enorm, sagt Schlotter. Beispielsweise über einen erfahrenen Mentor aus dem Konzernumfeld, der oder die helfen kann, strategische Partnerschaften richtig anzugehen und Prozesse zu verstehen.
Gemeinsam gewinnen
Stellen sich beide Seiten gut auf und aufeinander ein, lässt sich aus diesen Kooperationen viel lernen und gewinnen. „Wir arbeiten mit vielen Universitäten und Start-ups. Das hilft uns, in neue Technologiethemen vorzustoßen und Innovationen schneller in den Markt zu bekommen“, so Schlotter. Aus seiner Sicht sei es wichtig, dass große Unternehmen Start-ups helfen, zu wachsen. So könne man gemeinsam die nächsten großen Innovationen realisieren, so Schlotter. Und der Antrieb ist groß: „Es geht hier auch darum, Deutschlands Position als Industrienation zu sichern“ – und zwar gemeinsam.